Mathilde Ostendorp
Die schreckliche Zeit im Lager Bedburg
Am 10.03.1945 zogen sich die letzten deutschen Truppen auf das rechte Rheinufer zurück. Damit gingen 31 Tage Kampf am unteren linken Niederrhein, mit großen Verlusten an Menschen und Material auf beiden Seiten, mit der Zerstörung alter Städte und Gemeinden mit ihren z.T. aus dem Mittelalter stammenden Bauten und der Landschaft, zu Ende. Bereits Ende Februar wurde in Bedburg, für die Internierung der Zivilbevölkerung, ein Lager eingerichtet. Die Alliierten wollten damit verhindern, dass die Einwohner die Truppenbewegungen und Vorbereitungen für weitere Kampfhandlungen der „Besatzer“ beobachten und evtl. deutschen Stoßtrupps mitteilen konnten.
Aus: Geschichtskreis im Heimat- und Verkehrsverein Uedem e.V. (Hrsg.), "Uedem im Krieg", Guntlisbergen, E, 1995, ISBN: 3980222926

Ende Februar befanden sich ca. 8.000 Zivilisten im Lager. Die Zahl stieg Mitte März auf über 20.000 und erreichte am Tag der Rheinüberquerung am 23.3.1945 ca. 28.000 Personen.
Bereits der Weg zum Lager Bedburg war für viele Personen sehr schwierig. Frau Mathilde Ostendorp aus Uedemerbruch erzählt hierzu folgendes:

„Für uns (sie und ihr Sohn) gingen nach den Frontereignissen in Uedemerbruch die Strapazen weiter. Meine letzte Hoffnung war, nach Keppeln zu fliehen und in meinem Elternhaus Schutz zu suchen. Von der holländischen Straße ging es weiter bis Bruns-Reedershof-Uedemerfeld.
Dort am Rande des Hohlweges standen circa 20 feindliche Panzer aufgefahren, die Rohre zum Reichswald gerichtet. Die Deutschen schossen immer noch aus dem Walde. Der Feind gebot uns, uns hinzulegen. Etwa eine halbe Stunde lagen wir dort, dann ging es weiter quer übers Land bis Velze Sonskuhl. Dort lag die kanadische Infanterie eingebuddelt. Wir flüchteten dort in den Keller des Herrn August Hooghof, Totenhügel. Der Besitzer bekam noch einen Splitter in die Mütze. Dort im Gelände brannte es an verschiedenen Stellen. Jetzt stießen wir auf einen unendlichen Nachschub des Feindes. Ein Rudel von jungen Schweinen trippelte dort durchs Gelände. Sie wurden von feindlichen Panzern zermalmt. Der Beschuss ließ nun nach; wir waren glücklich hinter der Front. Auch hier im Gelände war ein furchtbares Durcheinander. Wir konnten uns kaum voran bewegen und hatten Angst, von den Panzern überfahren zu werden. Einen Weg konnten wir nicht mehr feststellen. Die Soldaten schrien uns nur mit „Heil Hitler“ an und verhöhnten uns. An meinem Elternhaus in Keppeln „Hötzenhof“ traf ich kein lebendes Wesen mehr an. Der Feind schoss gerade die letzten Hühner ab. Kein Mensch konnte mir Auskunft geben, wo meine Angehörigen zu finden waren, vertrieben, genau wie wir. Sie teilten unser hartes Los. Dort im Nachbarkeller - es waren mir noch gute Bekannte - lag Herr Theodor van Ackeren mit seiner Frau erstickt im Keller.
Trostlos und schweren Herzens verließ ich meine Heimat, um ins Ungewisse zu gehen. Von den Kanadiern wurden wir immer weiter zurückgetrieben bis zur Kirche in Neulouisendorf. Dort war eine Rote-Kreuz-Station. Wir hegten die Hoffnung, daß man uns hier etwas zu trinken gab, denn die Zunge klebte am Gaumen, aber unser Traum ging nicht in Erfüllung. Weiter haben wir uns bis zur Straße Keppeln-Kalkar geschleppt. Wir wollten zur Sägerei Schleuter, Altkalkar. Es sind mein Schwager und meine Schwägerin und ich dachte, einmal muß es doch glücken. Es war mittlerweile auch dunkel geworden. Oben am Berg stand die kanadische Polizei und ließ uns nicht durch, sondern wies uns in die Scheune des Landwirts Hans. Dort lagen schon mehrere Zivilisten. Todmüde legten wir uns in den Kuhstall. So gegen Mitternacht wurden wir im Wagen zum Lager Bedburg antransportiert. Das war unsere große Befreiung. Ich hatte nur noch den Wunsch zu schlafen und mein Denken auszuschalten.“

Die nach Bedburg Internierten wohnten hauptsächlich in 1,60m hohen, 2,50m breiten und 3,50 m langen Zelten. Es wurde zwecks Schlafunterlage nach Stroh und Heu gesucht, denn ansonsten hätte man auf den nackten Boden geschlafen. Die Konservendosen der Alliierten wurden zu Essgeschirr umfunktioniert. Die Toiletten bestanden aus einem Graben mit einem Sitzbalken. Zum Waschen hatte man nur kleine Schüsseln. Es gab nur wenig zu essen, häufig eine mit Kartoffelschalen untermischte Suppe und eine dicke Scheibe Brot mit Fett. Durch die unhygienischen Umstände starben insgesamt 367 Personen im Lager, größtenteils Kinder und ältere Mitbürger. Nach dem Rheinübergang (23.3.) verstärkte sich der Artilleriebeschuss der Deutschen vom rechten Rheinufer. In der Nacht zum 25. März wurde das Lager von einem deutschen Flugzeug angegriffen. Die hellerleuchtete Anstalt bot der nichtsahnenden Besatzung ein gutes Ziel. Das Flugzeug stürzte anschließend bei Uedemerbruch ab, wo die vier Besatzungsmitglieder beerdigt wurden. Am 26. März begann die Vorbereitung zur Rückführung der Internierten. Am 23. April 45 war das Lager Bedburg restlos geleert.

Frau Ostendorp aus Uedemerbruch schildert folgende Erlebnisse aus dem Lager:
„In einem überfüllten Saal von Menschen wurden wir (sie und ihr Sohn) hereingeworfen. Man nannte ihn Auffanglager; es war schon der richtige Ausdruck. Müde und abgespannt legte ich mich auf den Fußboden, den Jungen in meinen Mantel gehüllt. Die schlechte verbrauchte Luft nahm mir fast den Atem. Das Wassertrinken wurde uns schon sofort verboten. Morgens in der Frühe hat man mich bewusstlos gefunden, den schlafenden Jungen in meinem Arm. Als ich wieder zu mir kam, lag ich bei einer gelähmten Frau am Fußende im Bett. Sie drückte mir ein Scheibchen Wurst in die Hand und meinte, ich hätte wohl zu lange gehungert. Der Bissen blieb mir im Hals stecken, aber das Leben ging weiter. Ich hatte ja auch die Verantwortung für meinen Jungen. Daß wir draußen im Dreck eine Blechdose suchen mussten, damit wir ein Gefäß hatten, um unsere Suppe auszutrinken, das hat mich vom ersten bis zum letzten Tag angeekelt. Uns blieb aber keine andere Wahl. Die Ruhr und Läuse bekamen wir dann noch so nebenbei. Von Uedemerbruch waren so circa 10 Familien im Lager, die in demselben Keil wohnten. Einmal habe ich einen Blick in die Leichenhalle geworfen. Es lagen ungefähr 30 Tote darin. Sieben Kinder befanden sich darunter; sie sehnten sich wohl nach einer besseren, schöneren Welt. Unter einem Tannenbaum im Gebüsch saß ich lange und weinte; ich dachte an unsere verlorene Heimat. Der Junge bekam Heimweh, sprach nur von seinem Hund, seinem Schäfchen und seinen Tauben, die er im Stich lassen musste, auch daß es in diesem Jahr keine Ostereier gab. Auch diese Zeit ging vorüber und eines Tages hieß es, daß auch die Uedemerbrucher entlassen würden. Wir wurden noch eine Nacht im Durchgangslager untergebracht. Es war eine eisig kalte Nacht. Ich bin die halbe Nacht im Freien herumgelaufen, und zwar aus Angst, mir in letzter Minute noch eine Lungenentzündung zu holen. Wir wurden auch wieder mit Wagen zur Heimat gebracht. Sonst hätte man gesungen; wir haben aber geweint, denn wir wussten ja, daß wir nur ein ausgeplündertes Haus vorfanden.“

Im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf befindet sich auch die Aussage von Karl Jordans über den Aufenthalt im Lager Bedburg. Der damals 15 jährige schildert seine Eindrücke - auszugsweise - wie folgt:
„Wir wurden mit einem LKW vom Kloster in Uedem nach Bedburg transportiert. Als wir abstiegen, verschlug es uns die Sprache. Mit knappen Gebärden wies man uns Zelt 16 in Reihe 8 an, und wir standen vor den nackten Tatsachen. Platz im Zelt war höchstens für 6 Personen. Laut Anweisung musste aber jedes Zelt mit 12 Personen belegt werden; da wir aber ein Baby in der Familie hatten, drückte man ein Auge zu, und so kamen wir mit 9 Personen in „unser“ Zelt. Obwohl wir alle niedergeschmettert waren, wurden wir nicht kopflos. Die Nacht drohte hereinzubrechen, und auf den bloßen feuchten Fußboden konnte man sich nicht legen. Also: Leiterwagen organisiert, Stroh „geliehen“ und zurück ins Lager! (In der Umgebung des Lagers wohnten noch Zivilisten). Ich verstehe heute noch nicht, daß wir uns so schnell daran gewöhnten, auf Stroh zu schlafen. Am nächsten Morgen hatten wir als erstes Gefühl Hunger. Kein Wunder nach so viel Aufregung. Die meisten Leute hatten in ihrem Gepäck auch irgendwelche Lebensmittel mitgebracht. Und so brachte meine Mutter dann auch irgendwie ein richtiges Frühstück auf den „Tisch“. In Hockstellung auf unserem Stroh wurden die Butterbrote heruntergewürgt. Kaffee oder ein anderes Getränk waren natürlich nicht zu bekommen. Aber wir trösteten uns. Die Engländer würden uns schon genügend betreuen; man braucht eben etwas Anlaufzeit, um die Versorgung einer Menschenherde (was waren wir sonst) zu organisieren. Die „Versorgung“ setzte auch bald ein. Um die Mittagszeit erhielten wir unser erstes Mittagessen, bestehend aus einer Eintopfsuppe, über die ich nicht urteilen möchte. Es waren vielleicht tatsächlich keine Lebensmittel zu beschaffen. (Die alliierten Soldaten benutzten auf jeden Fall ihr Weißbrot als Schießscheibe.) Nun kann der Mensch ja nicht allein von Suppe leben. Das sahen auch die Engländer ein. So erhielten wir als Tagesration pro Kopf 100 Gramm Kommissbrot, Kleinstkinder und Leute über 60 Jahre dieselbe Menge Weißbrot, Kleinstkinder erhielten außerdem 1/2 Liter Milch. Dazu gab es eine Messerspitze Margarine und Marmelade. In den nächsten Tagen trafen wir fast alle unsere Verwandten dort in Bedburg wieder. Man brauchte nur ein paar hundert Meter zu gehen, und man war in einem anderen Zeltlager. Die Lager waren nach Orten aufgeteilt; wenn man jemand besuchte, hieß es einfach: „Ich gehe mal eben nach Xanten (oder nach Kalkar).“

Für die alten Leute war das Lager am schlimmsten. Die Sterblichkeitsziffer beweist, wie sich Krankheiten wie Ruhr, Ischias und andere Erkältungserscheinungen auswirkten; an die Ansteckungsgefahren durch offene Latrinengruben braucht man gar nicht zu denken. Irgendeiner kam schließlich auf die Idee, selbst einen Ofen zu bauen. Munitionskisten lagen ja genug herum. Das Sprichwort: „Not macht erfinderisch“ bewies hier seine Gültigkeit. Bald qualmten die Produkte dieses Erfindungsgeistes durch die Zeltreihen. Das Problem war nur: Was kochen wir denn heute? wie kommen wir nur an Kartoffeln? Auf jeden Fall waren sie plötzlich da, und es gab Reibekuchen und Bratkartoffeln. Sie schmeckten uns genauso gut wie zu Hause, wenn sie auch ein wenig Tannengrüngeschmack hatten. Unser erster Gang war morgens das Holzholen. Da natürlich das trockene Holz bald vergriffen war, blieb uns nichts anderes übrig, als die Bäume ihrer unteren Zweige zu berauben, d.h. also, daß wir tatsächlich vollkommen grünes Holz stochen mussten. Das Kochen fand übrigens ein plötzliches Ende. Irgendein Offizier hatte wohl entdeckt, daß wir „Heeresgut“ verwendeten; also gab er seinen Leuten Befehl, die Öfen zu zerstören und die Kisten auf einen Haufen zu werfen. Nach einigen Tagen waren die Öfen natürlich wiederaufgebaut, bis die nächste „Säuberung“ erfolgte. Aber es war ja Krieg; und im Krieg geht eben Macht vor Recht. Es war wirklich noch Krieg; man konnte ab und zu noch Geschützdonner hören. Und eines Nachts bekamen wir ihn sogar in unserem geschützten Lager zu spüren. Ehe man es überhaupt erfassen konnte, war es schon passiert. Deutsche Flieger hatten unser Lager beschossen. Es brach eine Art Panik aus. Einer Frau im Nachbarzelt hatte eine Kugel den Fuß abgeschossen, und in den Koffer meines Onkels steckte ein Geschoss. Es gab natürlich auch heitere Szenen, z. B. wenn wir entlaust wurden. Ein Sanitätskommando (Engländer und Engländerinnen) kamen mit einem Apparat (der einer Feuerwehrspritze ähnlichsieht, nur etwas kleiner) durch die Zeltreihen und fertigte uns, die wir in einer Reihe angetreten waren, ab. Durch sämtliche Öffnungen unserer Kleider wurde ein DDT-Stoß geschickt, der uns ein Aussehen gab, als ob wir in eine Mehltonne gefallen wären. Es war aber auch nötig, denn die Vermehrung des Ungeziefers wurde besonders dadurch begünstigt, daß man praktisch überhaupt nicht baden konnte. Selbst Wasser war knapp. Nach einiger Zeit wurden die Männer aufgefordert, sich für einen Arbeitseinsatz zu melden. Es handelte sich dann meistens um leichtere Arbeiten, wie das Malen von Straßenschildern usw. Von diesen Touren brachten sie meistens einige Sachen mit, die bei uns großen Jubel auslösten, wie Keks, Brot oder Zucker. So verging ein Tag nach dem andern. Zeit war für uns überhaupt kein Begriff. Man wartete eben nur auf den Tag, wenn wir nach Hause gehen konnten. Gottseidank war während der ganzen Wochen das Wetter ziemlich gut. Wenn es längere Zeit geregnet hätte, wäre unser Aufenthalt im Zelt auch unerträglich geworden. Und eines Tages war es soweit. Wir wurden wieder mit Sack und Pack verladen, und nachdem wir noch einige Tage in der Schule Hau-Aussen, die als Transitlager diente, verbracht hatten, ging es heimwärts.“

In der Uedemerbrucher Schulchronik ist folgendes am 20.7.45 niedergeschrieben:
„Nachtrag. Ein Leidtragender erzählt aus dem Lager Bedburg-Hau 1945:
6 Tage und Nächte in der Hauptkampflinie während der schrecklichen Fronttage! Not und Tod unserer Begleiter. Haus und Hof zusammengeschossen und abgebrannt. Alle Arbeit einer ganzen Generation vernichtet. Das war für die Bewohner des unteren Niederrheins, die fest entschlossen waren die Front in der Heimat zu überstehen in den meisten Fällen das Endresultat. Für viele jedoch hatten unsere Gegner noch als zusätzliches Leid das Lager Bedburg-Hau ausersehen. Hier traf sich der größte Teil der Menschen des unteren Niederrheins. Direkt bei Einnahme ihrer Unterkünfte durch die Gegner waren sie fast alle ohne Hab und Gut, kaum notdürftig bekleidet, trotz starken Arifeuers herausgetrieben und fanden dann in Bedburg Aufnahme, doch es fehlte an allen; 60-70 Menschen in Räumen zusammengepfercht, ohne Decken, ohne Heizung. Kleine Kinder und Greise hatten kaum die Möglichkeit, sich von den Strapazen auszuruhen. Als Tagesration erhielten die Erwachsenen eine Schnitte Brot und etwas Suppe. Letztere konnte nur an diejenigen Insassen ausgegeben werden, die in der vorhandenen Müllgraben eine Konservenbüchse zum Einfüllen der Suppe gefunden hatten. Bald wurde unter Führung der Militärregierung eine deutsche Lagerverwaltung gebildet, die nun versuchte, dem furchtbaren Elend Herr zu werden. Die Zahl der Insassen hatte sich inzwischen auf 28 - 30.000 erhöht. Die unzureichende schlechte Ernährung und Unterkunft führten zu typhusähnlichen Krankheiten. Die wenigen deutschen Ärzte, die in der Heimat verblieben, versuchten vergeblich der Krankheit Herr zu werden. Da vom Sieger fast keine Medikamente zur Verfügung gestellt wurden, so standen wir an manchen Tagen vor den Massengräbern verstorbener Lagerinsassen, stumm und verbissen, von allem Leid. Ein „Herr, gib’ ihm oder ihr die ewige Ruh!“ zum Abschied! Wer wird wohl von unseren Bekannten der nächste sein? So verging Tag um Tag, Woche um Woche in banger Sorge. Es kam die Osterzeit. Am Karsamstag standen Tausende um die Anstaltskirche versammelt, und aus gequälten Herzen hörte man den Ruf: „Vater von dem Himmelsthron, sieh auf uns, erbarme dich!“ In den Wochen nach Ostern durften wir nach fünfwöchigen Lagerleben zur Heimat zurück. Glücklich der Heimkehrer, dem anständige Nachbarn ein vorläufiges Obdach boten und ihn von seiner letzten Habe noch etwas gerettet hatten. Mögen die Menschen, die in dieser Zeit am Gut der Vertriebenen sich vergingen, durch Wiedergutmachung ihren Herzensfrieden zurückgewinnen! Mögen die Tage der Not in Bedburg-Hau der Menschen für die Hungernden dieser Zeit ein gütiges Herz und eine offene Hand gegeben haben, das sei der Segen der Tage gemeinsamen Lagerlebens in bitterer Notzeit.“