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Krieg am Niederrhein

Die Ereignisse im Raum Wesel 1944/45

Oskar Treutlein

Der gebürtige Büdericher erlebte im Alter von zehn Jahren die Luftlandung bei Hamminkeln. Mit seiner Mutter hatte Oskar Treutlein zunächst bei Verwandten in Wesel gewohnt. Nach der Zerstörung Wesels im Februar 1945 waren sie alle auf einem Bauernhof bei Hamminkeln untergekommen. Als britische Soldaten das Dorf am 24. März 1945 erobert hatten, wurden sie und andere Zivilisten in der evangelischen Kirche festgesetzt. Dort erlebten sie dramatische Stunden, es gab durch deutschen Beschuss mehrere Tote und Verletzte.

Hamminkelner Frauen und Kinder stehen an der evangelischen Kirche unter Bewachung. 

Meine Tante Johanna und mein Onkel Josef waren in Wesel ausgebombt und nach Hamminkeln evakuiert, ebenso wie meine Mutter und ich. Dort wohnten wir bei Möllenbeck in der Bramhorst. Freitag abends begann der Artilleriebeschuss und wir gingen zu Schlabes in den Rübenkeller, denn der war als Luftschutzraum ausgewiesen. Am nächsten Morgen wollten wir von dort wieder zurückgehen, aber dann hörten wir Flugzeuge. Wir dachten: Das ist ein Luftangriff auf das Ruhrgebiet. Es war ein glasklarer Frühlingstag, aber dann wurde der Himmel dunkel – und so gingen wir wieder zurück zu Schlabes. Dann landeten die Lastensegler. Von Schlabes aus habe ich gesehen, dass deutsche Soldaten mit der Panzerfaust auf die Lastensegler schossen. Bei uns hielt Herr Hesper schon ein weißes Tuch hinterm Rücken versteckt und animierte die deutschen Soldaten, sich zu ergeben. Die Zivilisten hatten Angst, denn Widerstand gefährdete sie, man dachte, die Engländer würden uns ausräuchern. Ein deutscher Unteroffizier bedrohte Herrn Hesper - und auch uns. Dann wollten die Soldaten Zuflucht bei uns suchen, doch die Bunkerinsassen trieben sie wieder heraus. Erst später, als der Unteroffizier von den Engländern gefangen genommen wurde, trat Ruhe ein. So um 14 oder 15 Uhr gingen wir zu Möllenbeck zurück. Auf der Tenne war ein Verbandsplatz, dort sah ich Sterbende und Verwundete, das ging mir und geht mir heute noch nah. Da war ein junger Engländer mit Bauchschuss, die Eingeweide hingen raus und er stöhnte „Mother.“ Die Sanitäter kümmerten sich auch um deutsche Verwundete, die sie zusammenflickten. Im Kuhstall waren deutsche Gefangene eingesperrt.

Ich war das einzige Kind, für mich war das alles furchtbar. Ich sollte das nicht weiter mitansehen, deswegen gab mir ein englischer Sergeant einen ehrenvollen Auftrag: „Bring den deutschen Soldaten doch mal Wasser.”  Und so ging ich mit dem Melkeimer zur Pumpe. Dann kam die Order: Alles packen, Notköfferchen mitnehmen, ich hatte meinen Schultornister dabei. Es folgte der Abmarsch nach Hamminkeln. Die Kampfhandlungen hatten größtenteils aufgehört, und ich sah die ersten Toten auf den Wiesen und im Graben liegen. Wir wurden zur evangelischen Kirche gebracht, zuerst waren wir so 15-20 Leute, das wurden mehr, es sammelte sich wie eine Prozession. Die Engländer waren nicht so freundlich, sie verboten uns zu sprechen. Wir kamen in die evangelische Kirche, da waren schon viele Leute. Am späten Abend oder in der Nacht hieß es, die Männer sollten in den Saal Neu gehen. Auf dem Kirchturm war so etwas wie eine Funk- oder Messstation. Wir sollten in der Kirche bleiben, man sagte uns nicht, wie lange, aber es gab Verpflegung: Butter, Käse, Brot. Auf dem Altar wurde Brot geschnitten, Butter in Würfel geschnitten. Leute saßen auf den Bänken, Kinderwagen standen in den Gängen. Die Kirche war sehr voll, aber alles lief ruhig ab. Am Sonntagabend sagte ein holländischer Dolmetscher, dass man die Deutschen davon in Kenntnis gesetzt hätte, dass in der Kirche Frauen und Kinder sind: “Macht euch keine Sorgen, die Sicherheit ist gewährleistet.”

Als wir uns für die Nacht vorbereiteten, verabschiedete ich mich von meinem Spielkameraden. Dann kam der Knall, es wurde dunkel, der Spielkamerad fiel um, ich bekam einen Schlag in die Hand. Dann brach Panik aus, alle wollten raus, stürmten heraus zu Neu. Der Bierkeller dort war ein altes Gewölbe, dort fühlten wir uns sicherer. Meiner Mutter hatte ein Splitter das Ohr durchschlagen, meine Tante hatte einen Splitterdurchschuss im Arm. Englische Sanitäter und ein Arzt kümmerten sich um die Verwundungen. Herr Schlabes war umgekommen, Frau Möllenbeck war tot, eine Frau verlor Mutter und Sohn in der Kirche. Es war ein ziemliches Durcheinander. Die Engländer waren reserviert, aber hilfsbereit, und man konnte sich nicht beschweren. Ich schmuggelte mich wieder in den Saal Neu, zu den Männern, die mussten während der Nacht dortbleiben. Am Montagmorgen sah man das ganze Chaos rundherum, im Laufe des Tages wurden wir laufen gelassen. Eine Familie Schroer, von der Schmiede, nahm uns mit zu sich. Im Dorf war militärischer Durchgangsverkehr, jede Menge Panzer rasselten durch. Deswegen wir mussten im Haus bleiben. Zuerst gab es eine Ausgangssperre, dann gab es ein paar Stunden pro Tag, an denen die Leute Besorgungen machen konnte. Außerdem wurden englische Soldaten in das Haus einquartiert.

(Aufgezeichnet 1994 von Alexander Berkel)