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Krieg am Niederrhein

Die Ereignisse im Raum Wesel 1944/45

Josef Becker

Als 15jähriger erlebte Josef Becker ab dem 24. März 1945 die schweren Kämpfe in Bienen. Im überfüllten Keller seines Elternhauses suchten er und viele Nachbarn Schutz vor dem Beschuss. Nach dem Ende der Kämpfe war sein Heimatort zerstört.

Josef Becker

Jetzt war unser Keller mit siebenundzwanzig Zivilisten und etlichen Soldaten belegt. Gepäckstücke, Koffer und Taschen lagen überall verstreut durcheinander herum. Außerdem hingen dort auch unsere Klamotten an einem Draht quer durch den Keller; an den Wänden standen Regale mit Eingemachtem. Von der Familie Wessels hörten wir, dass der Keller beim Nachbarn Sent durch Granateinschläge getroffen und schwer beschädigt worden sei, und schon nach kurzer Zeit hat auch die Familie Sent den eigenen Keller verlassen müssen und kam durch Giesens Garten zu uns gelaufen. Es waren Vater Johann und Frau Klara Sent, die Töchter Helene und Irene sowie die Söhne Hans und Alois und der Schwiegersohn Theodor Gerritzen. Nun waren es nochmals sieben Personen mehr, und damit waren insgesamt vierunddreißig Zivilisten in dem kleinen Raum zusammengedrängt. Dazu kamen die Soldaten von den Granatwerfern, die zwar nicht immer anwesend waren, aber immer waren einige von ihnen unter uns. Sents berichteten, dass wieder eine Granate auf der Kellerdecke eingeschlagen sei und dass sie dort nicht mehr bleiben könnten. Die Tochter Irene Sent war von mehreren kleinen Splittern verletzt worden und wurde im Keller von ihrem Vater, er war Sanitäter, verbunden. Wir Jungens saßen meist mit den Soldaten in dem kleinen Vorraum unter der Treppe. Das Granatfeuer, das eigentlich nie ganz aufhörte, steigerte sich am Abend und in der Nacht wieder zu ununterbrochenem Trommelfeuer, das bis in die Morgenstunden des Sonntags anhielt. Man kann es sich nur schwer vorstellen, was dort in dem kleinen dunklen Keller ablief, besonders wenn Granaten ins Haus einschlugen, und man glaubte, das Haus müsse jeden Moment einstürzen, oder eine Granate würde die Wand oder die Kellerdecke durchschlagen. Besonders die Kinder und die alten Leute schrien, beteten und weinten in einem fort. Die Frauen und Kinder gingen auch nicht mehr nach oben zur Toilette (die war ja auch schon zerschossen) oder ins Freie. Der ganze Mief, Staub, Schweiß und Pulverdampf, dazu das Rufen, Schreien und Beten der Kinder und Frauen die ganze Nacht hindurch - all das ging furchtbar an die Nerven.

(Aus: “Bienen 1939-1945. Erinnerungen, Erlebnisse, Berichte” von Josef Becker, veröffentlicht 1999)

Nach dem Ende der Kämpfe verbrachte Josef Becker vier Tage in Grietherbusch, doch er und seine Familie wollten schnell nach Bienen zu ihrem Haus zurückkehren. Josef Becker berichtet in seinem Buch

So sah der deutsche Soldatenfriedhof in Bienen anfangs aus.
(Foto: Sammlung Becker)

Ich lief nach Bienen herein und kam zum Kirchenland, auf dem heute das Bürgerhaus steht. Ich ging ich auf einen Kanadier zu, der in einem der kleinen flinken Kettenfahrzeuge saß und fragte ihn auf gut deutsch: „Wo Kommandantur?“ Er schaute mich kurz an, dann hob er seine Pistole, mit der er wohl gespielt hatte, zielte auf mich und sagte: „Hier Kommandantur!“ Ich legte verständlicherweise gleich den Rückwärtsgang ein, fragte nicht weiter nach der Kommandantur und lief durch das zerstörte Dorf nach Hause. Hier traf ich Mutter und die Geschwister an, die gerade von Schlütter zurückgekommen waren. Soweit ich mich erinnere, waren alle anderen noch bei Schlütter zurückgeblieben. Die kanadischen Hausbesatzer waren schon abgerückt. Nach kurzem Aufenthalt ging ich wieder nach Grietherbusch, um am nächsten Tag gemeinsam mit meinem Vater wieder nach Bienen zurückzukehren. Jetzt waren wir alle wieder beisammen. Am Ostermontag, es war der 2. April und das Wetter sehr regnerisch, saßen Bernd und ich auf dem kaputten Dach und versuchten, wenigstens die Küche gegen den Regen trocken zu halten. … Aber alle waren wir glücklich, dass der Krieg für uns zu Ende war. Nun wurde begonnen, alles wieder ein wenig besser zu gestalten. Dass der Krieg verloren gehen würde, stand für die meisten Bewohner hier schon lange fest. Das wirklich Neue war, im negativen Sinne, dass das Dorf Bienen fast ganz zerstört war - auch wenn man das im Moment noch nicht ganz überblicken konnte. Mitbürger waren ums Leben gekommen, und etwa 70 gefallene deutsche Soldaten waren im ganzen Dorf verstreut beerdigt oder mussten noch bestattet werden. Zwei Friedhöfe für gefallene britische bzw. kanadische Soldaten waren am Dorfrand angelegt worden. Alles Großvieh, das am Ort verblieben und umgekommen war, musste vergraben werden. Die meisten Kadaver wurden in die Schützengräben, Stellungen und Bombenkrater geschleppt. Ausgebrannte Ruinen überall. Abgeschossene oder verlassene Panzerwagen und andere Fahrzeuge standen an den Wegen. Das schöne friedliche Dorf gab es nicht mehr. Die neue Zeit brachte anfangs auch andere Probleme. Es ist bekannt, dass die kanadischen Soldaten Uhren, Ringe und andere Wertsachen aus den Taschen und vom Körper von Zivilisten raubten. Man könnte hier die Namen vieler Personen nennen, denen es so ergangen ist. Auf materielle Werte, Einrichtungsgegenstände und Möbel usw. nahmen die Kanadier keine Rücksicht. Mutwillig verschmutzten, zerschlugen und verschleppten sie vieles.

(aus: “Bienen in Bildern, Erinnerungen und Berichten” von Josef Becker, veröffentlicht 2010)