Magda Dresen
In Flüren erlebte die damals 8jährige Magda Dresen, wie deutsche Soldaten in ihrem Elternhaus einquartiert wurden und wie amerikanische Fallschirmjäger am 24. März 1945 den Ort eroberten. Sie schildert ihre erste Begegnung mit den Amerikanern.

dem Tag von Magdas Erstkommunion.
Ich war im März 1945 acht Jahre alt. Damals wohnten wir am Ortsausgang von Flüren, ganz in der Nähe der Reichsstraße 8 und der Gaststätte „Zur Post“. Am Flürener Weg betrieben meine Eltern, Maria und Heinrich Pumpe, einen Tante-Emma-Laden – von Spiritus bis zur Babyflasche, von Lebensmitteln bis zum Einmachglas gab es so ziemlich alles bei uns. Unser Wohnhaus lag etwas höher, und von dort hatte man einen guten Blick über die gesamte Weseler Aue bis hin zur Weseler Eisenbahnbrücke. Das war auch der Grund, warum die Wehrmacht unter dem Dach unseres Hauses einen Artillerie-Beobachtungsstand eingerichtet hatte. Dort oben waren unter den Dachpfannen Sandsäcke gestapelt und die Beobachter behielten von dort die Bewegungen der Alliierten auf der anderen Rheinseite im Blick. Neun deutsche Soldaten waren bei uns einquartiert. Für uns bedeutete die Einquartierung, dass wir nun total im Keller lebten – drei Frauen mit insgesamt vier Kindern. Mein Vater war als Soldat an der Ostfront. Für mich als Kind hatte die Belegung mit den Soldaten immerhin einen Vorteil: Artilleriebeobachter brauchen Buntstifte, um auf ihren Karten und Unterlagen Angaben über Ziele und Entfernungen einzutragen, und sie schenkten mir einige dieser Buntstifte, die es während des Krieges für uns Kinder immer seltener gab. Diese Soldaten waren anscheinend gut informiert, denn eines Tages sagten sie uns, dass die Wehrmacht die Weseler Eisenbahnbrücke sprengen würde. Einer nahm mich an die Hand und ging mit mir auf die Wiese hinter unserem Haus. So konnte die Sprengung mit ansehen und beobachten, wie die Brücke mittig in sich zusammenstürzte. Heute weiß ich, dass diese Sprengung am 10. März 1945 war – und dass sich die Wehrmacht an diesem Tag endgültig auf das rechte Rheinufer zurückzog.
Knapp zwei Wochen später begann dann der alliierte Angriff über den Rhein. Am 23. März setzte schwerer Artilleriebeschuss ein, den wir im Keller überstanden. Die Soldaten hatten meine Mutter noch gewarnt, als es losging: „Frau Pumpe, sie müssen hier raus. Sie haben einen Artillerie-Beobachtungsposten hier, und dass wissen die da drüben auch!“ Aber unser Haus blieb bei dem Beschuss unversehrt. Die neun Soldaten waren während des Beschusses mit bei uns im Keller. Später kam noch ein weiterer hinzu, dem hatte man den vorderen Teil des Fußes abgeschossen – der Fuß steckte noch in dem Schuh, das Blut quoll heraus und er stöhnte. In dieser Nacht tat meine Mutter etwas, das mir noch heute vor Augen steht: Wir hatten ein gerahmtes Hitler-Bild, das im Geschäft zu „Führers Geburtstag“ ins Fenster gestellt werden musste – ich sehe noch vor mir, wie sie das Bild auf den Boden warf, es zertrat, so dass der Rahmen zerbrach, dann holte sie das Hitler-Foto heraus. Im Keller stand auch unser Herd, und sie warf das Bild ins offene Feuer. Am nächsten Morgen gab sie uns Kindern weiße Taschentücher, außerdem steckte sie an Besenstielen aufgehängte weiße Kopfkissen aus dem Fenster. Sie war eine einfache Frau, aber in dieser Situation wusste sie, was zu tun war und zeigte, wie klug sie war!
An diesem Morgen, es war Samstag, der 24. März, kamen dann viele Flugzeuge, aus denen auch bei uns in Flüren amerikanische Fallschirmjäger absprangen. Unten im Keller wollte einer der Soldaten noch Widerstand leisten. Wir kannten die Männer inzwischen und wussten, dass dieser Soldat ein Österreicher war. Als er schon das Gewehr aus einem Kellerfenster hielt, packte meine Mutter ihn an seiner Uniformjacke und rief: „Hans, nicht schießen! Hans, nicht schießen!“ Es ging gut aus, er schoss nicht. Dafür schossen wenig später die Amerikaner in den Kellereingang hinein, und dann gingen unsere Soldaten mit erhobenen Händen heraus. Wir Frauen und Kinder folgten ihnen mit unseren weißen Taschentüchern. Noch heute erinnere ich mich daran, dass die Amerikaner, die ich dort zum ersten Mal sah, auf ihren Helmen Netze hatten, an denen vorne ein Verbandspäckchen befestigt war.

Wir standen hinter einer Ecke unseres Hauses, die gefangenen Soldaten lagen schon alle auf dem Boden – da wurden wir von einem Hof, der jenseits der heutigen B8 lag, beschossen. Als ich in dieser Situation die Amis mit ihren Maschinenpistolen sah, bekam eine solche Angst, dass ich rief: „Mutter, Mutter, wir müssen alle sterben!“ Doch wieder ging es gut aus für uns. An diesem Morgen sahen wir auch, wie weitere Flugzeuge angeflogen kamen; sie zogen Lastensegler, die über unserem Gebiet ausgeklinkt wurden und wohl im Bereich Blumenkamp landeten. Man sah sogar die Piloten in den Kanzeln! Kurz darauf mussten wir weg von unserem Haus. Wir wurden ans andere Ende von Flüren geführt, zu einem Bauernhaus, dass am Flürener Friedhof lag. Unterwegs sah ich, dass Soldaten in ihren Fallschirmen in den Bäumen hingen. Auf dem Hof Schürmann kamen wir in einer offenen Scheune unter, wir lagen dort auf Strohstreu. Ich hatte Fieber, deswegen bat eine Lehrerin, die Englisch konnte, die Amerikaner um Hilfe. Sie brachten mich zu einem Verbandsplatz im nächsten Haus. Dort erlebte ich zum ersten Mal, dass man mit einem Thermometer auch Fieber messen kann, wenn man es in den Mund steckt! Nach dem Fiebermessen bekam ich eine kleine Tablette – und Schokolade. So nett waren die amerikanischen Soldaten zu mir! Wir konnten noch am selben Tag zurück in unser Haus – es war weitgehend unbeschädigt, aber aus unserem Tante Emma-Laden waren die Lebensmittel gestohlen worden. Und die Amerikaner hatten durch jedes Bett geschossen, wohl um zu prüfen, ob jemand sich unter dem Bett versteckt hielt. Natürlich benutzen wir die Bettwäsche weiter. Es begann ja eine entbehrungsreiche Zeit.
(Aufgezeichnet im Jahr 2020 von Alexander Berkel und zuerst veröffentlicht im „Reeser Geschichtsfreund Nr. 16/2023“, S. 54-57)