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Krieg am Niederrhein

Die Ereignisse im Raum Wesel 1944/45

Private Herbert Seymour (Herbert Sachs)

No. 3 Troop, No. 10 (Inter Allied) Commando
1.Februar 1918 – 23. März 1945

Herbert Sachs

Als die ersten „Buffalo“-Transportpanzer um 22 Uhr ins Wasser rollten, erfasste die Strömung die kastenförmigen Amphibienfahrzeuge. Mit aufheulenden Motoren steuerten sie zunächst gegen den Strom an, um dann den Rhein zu überqueren – ihr Ziel war an diesem Abend des 23. März 1945 die Gravinsel. Die Soldaten der britischen 1. Commando-Brigade sollten von dort vorrücken und die bereits zerstörte Stadt Wesel erobern. Die Nacht war erfüllt vom Donnern der alliierten Geschütze, Leuchtspurgeschosse aus Maschinengewehren jagten hin und her. Die deutschen Verteidiger schossen in Richtung der Schwimmpanzer, doch die Gegenwehr war schwächer als erwartet. Die Soldaten an Bord der „Buffalos“ gehörten zur Elite der britischen Armee, den sogenannten Commandos, die für Spezialeinsätze ausgebildet waren. Einer von diesen Elitesoldaten war Private Herbert Seymour, Angehöriger der „No. 3 Troop“ des „No. 10 Commando“.

Herbert Seymour war ein Tarnname – der 27jährige Soldat hatte ihn beim Eintritt in die britische Armee angenommen, um bei einer Gefangennahme durch die deutsche Wehrmacht nicht aufzufallen. Sein eigentlicher Name war Herbert Sachs, geboren und aufgewachsen waren er und seine beiden Schwestern in Berlin-Charlottenburg in einer säkularen jüdischen Kaufmannsfamilie. Herbert reagierte auf die antisemitischen Maßnahmen im nationalsozialistischen Deutschland wie viele junge Juden – er verstand sich als Zionist, sah eine Zukunft für europäische Juden im britischen Mandatsgebiet in Palästina. Dort wollten die Anhänger der zionistischen Bewegung sich niederlassen und das Land urbar machen. Herbert besuchte in Deutschland zur „Hachschara“ (Vorbereitung) zunächst das Lehrgut Schocken in Spreenhagen, südwestlich von Berlin. Dort lernten die jungen Teilnehmer neben landwirtschaftlichen Fertigkeiten auch Ivrit, das modernisierte Hebräisch. Herbert Sachs war Teil der jüdischen Jugendbewegung und wechselte später als Mitglied des Pfadfinderbundes “Makkabi HaZair” ins Landwerk Ahrensdorf in Brandenburg. Mit solchen Gemeinschaftsaktivitäten wehrten sich viele junge deutsche Juden gegen ihre zunehmende Isolierung in der Gesellschaft der 30er Jahre. Der Familie Sachs gelang es 1938, Deutschland zu verlassen – für sie gab es keine Zukunft in einem Land, das Juden mit immer schärferen diskriminierenden Gesetzen das Leben zur Hölle machte. Die Familie fand Aufnahme in Großbritannien und ließ sich in London nieder – die rechtzeitige Emigration rettete sie vor den Schrecken, die vielen anderen europäischen Juden noch bevorstehen sollten. Als der Zweite Weltkrieg begann, stuften die britischen Behörden Herbert Sachs und seinen Vater zunächst als „enemy aliens“ ein – als feindliche Ausländer. Sie wurden wie viele andere jüdisch-deutsche Männer auf der Isle of Man interniert. 1941 entließ man den 60jährigen Vater und stellte Herbert vor die Wahl, entweder in Kanada oder Australien interniert zu werden oder in die britische Armee einzutreten. Der junge Deutsche entschied sich für die Armee. Wie die anderen „enemy aliens“ durfte er zunächst nur im „Pioneer Corps“ dienen – in einer unbewaffneten Bautruppe. Als Soldat des „Pioneer Corps” verschlug es ihn nach Nordafrika, wo seine Einheit Feldflugplätze für die britische Luftwaffe anlegte1.

Groesbeek Memorial -> Weitere Infos - Foto: Dießenbacher Informationsmedien

1942 erkannten die Briten den Wert von Soldaten, die Deutsch sprachen und deswegen für Spezialeinsätze geeignet waren. Herbert Sachs durfte als richtiger Soldat in das „Royal East Kent Regiment“ eintreten und nannte sich fortan Herbert Seymour. Nachdem er sich freiwillig zur Eliteeinheit der Commandos gemeldet hatte, kam er Ausbildung nach Aberdovey in Wales. Aus den Absolventen des Commando-Lehrgangs entstand die „No. 3 Troop“ – diese besondere Truppe wurde von britischen Offizieren geführt und bestand aus insgesamt 88 deutschen, österreichischen und ungarischen Juden. Diese „No. 3 Troop“ war Teil des „No. 10 (Inter Allied) Commando“, das sich aus vielen Nationalitäten zusammensetzte und sechs weitere “Troops” umfasste – jeweils eine für Niederländer, Franzosen, Belgier, Norweger, Polen und Jugoslawen. Diese Männer hatten eines gemeinsam: Sie alle stammten aus Ländern, die von den Deutschen besetzt waren – oder sie hatten wie die jüdischen Soldaten andere gute Gründe, gegen Hitlers Deutschland zu kämpfen. Herbert Seymour war einer von ihnen. Den ersten Einsatz hatte das „No. 10 Commando“ im Juni 1944 während der Landung der Alliierten in der Normandie.

Für den Rheinübergang bei Wesel am 23. März 1945 wurden zahlreiche Commando-Einheiten zusammengefasst – sie bildeten die 1. Commando Brigade, die mit 1800 Mann in den Einsatz ging. Diese Soldaten sollten in der Dunkelheit auf die Gravinsel übersetzen und sich durch die Aue bis nach Wesel vorkämpfen, um die Ruinen der Stadt zu erobern. Während des Angriffs über den Rhein traf eine Granate einen „Buffalo“-Amphibienpanzer, der einige Männer der „No. 3 Troop“ transportierte. Das Fahrzeug fing Feuer und trieb brennend auf dem Fluss – in diesen Minuten starb Herbert Sachs alias Herbert Seymour. Sein Leichnam wurde nie gefunden, ihm wurde kein eigenes Grab zuteil. An ihn - und an die anderen britischen Gefallenen, die als vermisst gelten - erinnern heute Gedenktafeln im “Groesbeek Memorial” in den Niederlanden.


1 - Die biografischen Angaben wurden dem Verfasser größtenteils von Herbert Sachs‘ Neffen Stephen Schrier zur Verfügung gestellt.