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Krieg am Niederrhein

Die Ereignisse im Raum Wesel 1944/45

„Die Hölle von Rees“ - Zwangsarbeiter am Niederrhein

Aus der Perspektive des NS-Regimes und der Wehrmacht stellte sich die Lage an der Westfront im Herbst 1944 zunehmend bedrohlich dar. Nach den Luftlandungen der Alliierten bei Eindhoven, Nimwegen und Arnheim („Operation Market Garden“) standen feindliche Truppen schon sehr nah an der deutsch-niederländischen Grenze. Deswegen begannen die Deutschen die Verteidigungsstellungen im niederrheinischen Grenzgebiet auszubauen. Der sogenannte „Westwall“ bestand hier nur aus provisorischen Erdstellungen und nicht - wie weiter südlich in der Eifel und im deutsch-französischen Grenzgebiet - aus Betonbunkern. Am Niederrhein musste also „geschanzt“ werden, es galt Stellungen für die eigenen Truppen und Panzergräben, die den Gegner aufhalten sollten, anzulegen. 

Die Ziegelei Boers in Groin auf einem Bild von 1948, Foto: Stichting Dwangarbeiders Apeldoorn ’40 – ’45

Verschleppung von Männern aus den Niederlanden

Trotz der Mobilisierung von ortsansäßigen Zivilisten, von Hitler-Jungen und von paramilitärischen Baueinheiten - also des „Reichsarbeitsdienstes“ und der „Organisation Todt“ -  gab es nicht genügend deutsche Arbeitskräfte. Deshalb entschloss sich die NS-Führung Ende September 1944 zu einem drastischen Schritt - sie ließ in den besetzten Niederlanden fast jeden arbeitsfähigen Mann zwischen 17 und 40 Jahren zum "Arbeitseinsatz" einberufen. Da nur wenige Niederländer diesem Befehl folgten, führten die Wehrmacht und die deutsche Ordnungspolizei, die der SS unterstand, im November und Dezember 1944 zahlreiche  „Razzien“ durch - Städte wie Rotterdam, den Haag, Apeldoorn, Harlem und Delft wurden überfallartig abgeriegelt, alle Männer zwischen 17 und 40 festgesetzt und dann ins Deutsche Reich entführt. Sie alle waren Zivilisten und mussten fortan Zwangsarbeit beim Stellungsbau leisten. Von den niederländischen Männern, die nach Deutschland verschleppt wurden, kamen zeitweise etwa 3500 nach Rees. Dort befand sich das „Ausländerlager Groin“, in dem die niederländischen Zivilsten fortan eingepfercht waren. Sie sollten in der Umgebung beim "Schanzen" eingesetzt werden. Dieses Schicksal teilten sie mit 1500 Insassen anderer Nationalitäten - Italiener, Ukrainer, Russen, Polen, Franzosen. Die meisten dieser Männer waren Kriegsgefangene, die Italiener waren sogenannte „Militärinternierte“, es gab jedoch auch sogenannte „Zivilarbeiter“ - also aus Osteuropa verschleppte junge Männer, die in der deutschen Kriegswirtschaft tätig werden sollten. 

Das Lager als Hölle

Für alle Insassen begann im Lager Groin eine Schreckenszeit. Sie mussten an allen sieben Tagen der Woche schuften - bei schlechter Ernährung und hartem Winterwetter. Man befahl ihnen, im Gebiet um  Bienen und Haldern Panzergräben und Stellungen auszuheben. Das „Lager“, in dem sie untergebracht waren, befand sich in Groin auf dem Gelände der Ziegelei Boers. Dort musste die Masse der Männer in sogenannten Trockenschuppen schlafen. Damals gab es zahlreiche Ziegeleien am Niederrhein, in denen vor allem Dachpfannen aus dem hiesigen Tonvorkommen geformt und gebrannt wurden. Vor dem Brennvorgang lagerte man die Pfannen zur Trocknung in großen, überdachten Schuppen, die keine Seitenwände hatten. Zum Vortrocknen war Durchzug ideal, doch als im Winter 1944/45 Menschen in diesen Schuppen auf Stroh schlafen mussten, fanden sie kaum Schutz gegen Kälte und Wind. Jeder Mann bekam eine Wolldecke, doch die meisten trugen völlig unzureichende Kleidung - sie waren in den Niederlanden aus ihrem Zivilleben gerissen worden und besaßen nur das, was sie an dem Tag ihrer Entführung am Leibe getragen hatten. Im Lager Groin gab es keinerlei Heizmöglichkeit, kein Licht, nur eine Wasserpumpe und zunächst keine ausreichenden Latrinen. Schnell wurde die Ziegelei zu einem schlammigen, mit Fäkalien verseuchten Areal. Die Männer konnten sich nicht waschen und wegen der Kälte nicht die Kleidung ablegen oder wechseln. Extremer Läuse-Befall war nur eine der Folgen, im Lager  breiteten sich zudem Infektionen und vor allem Durchfallerkrankungen aus. Verbreitet waren auch Lungenentzündungen. Da manche Männer mit nackten Füßen in Holzschuhen in den Arbeitseinsatz gingen, kam es zu Erfrierungen, die Amputationen nach sich zogen. Wer arbeitsunfähig oder krank wurde, konnte - nach Gutdünken des rücksichtslosen Lagerarztes Hans Brunner - in ein primitives „Krankenrevier“ in Empel oder Millingen überstellt werden. Auch dort lagen die Männer auf engstem Raum auf dem Boden und es herrschten fürchterliche hygienische Zustände. Zahlreiche an Ruhr erkrankte Patienten erhielten keine Hilfe und starben an Dehydrierung.

Brutale Bewacher

Die katastrophalen Bedingungen wurden durch ein Schreckensregime verschärft, das die Lagerleiter Arnold Heinze und Peter Röhrig etablierten. Beide wurden von den Insassen übereinstimmend als sadistische Schläger beschrieben. Als Wachmannschaften dienten vorwiegend SA-Männer aus dem Ruhrgebiet. Auch sie prügelten mit solcher Brutalität, dass etliche ihrer Opfer starben. Bei geringen Anlässen verhängten die Aufseher grausame Bestrafungen durch Stockschläge. Die Zahl der Todesfälle im Lager und in den Krankenstationen stieg rasch an. Krankheiten, Hunger, Schwerstarbeit, die erbärmliche Bekleidung im Winter, der Terror der Bewacher forderten immer mehr Opfer. Dieses Elend blieb in den Dörfern bei Rees nicht unbemerkt. In Millingen und Bienen gab es Außenstellen des Lagers - in den Sälen verschiedener Gaststätten waren etliche hundert Niederländer nachts eigepfercht. Die Zivilbevölkerung sah Tag für Tag, was den Menschen angetan wurde. Etliche Deutsche halfen, indem sie den Zwangsarbeitern Nahrungsmittel und Kleidungsstücke verschafften. Da die Grenze zu den Niederlanden nur zehn Kilometer entfernt war, gelang Ende Dezember 1944 einigen Insassen die Flucht. Sie berichteten im grenznahen Achterhoek, was in der „Hölle von Rees“ mit Landsleuten geschah.

Fluchthilfe und Rettungsaktionen

Vor allem private Hilfskomitees, Einzelpersonen und Ärzte aus den Niederlanden begannen im Januar 1945, etwas gegen das Elend zu unternehmen. Zum einen ging es darum, in den Krankenstationen durch Lieferungen von Medikamenten, Verbandmaterial und Nahrungspaketen aus den Niederlanden so viele Leben wie möglich zu retten. In den grenznahen Orten wie Megchelen, Gendringen, Aalten und Dinxperlo im Achterhoek entstanden mit Hilfe des örtlichen Roten Kreuzes Notkrankenhäuser und Auffangstationen für kranke Lagerinsassen, nach schwierigen Verhandlungen konnten fast 1200 schwere Fälle dorthin evakuiert wurden. Zum anderen etablierte sich ein Netzwerk von Fluchthelfern, das - angeleitet von Niederländern - auch mit einigen deutschen Mittelsmännern zusammenarbeitete. Es gelang unter anderem, Entlassungspapiere und Dokumente zu fälschen, mit denen man beim Grenzübertritt die Wachposten täuschen konnte. Von den anfangs etwa 3500 Niederländern, die in Groin und Umgebung Zwangsarbeit leisten mussten, konnten viele durch Fluchthilfe ausgeschleust oder in die Notkrankenhäuser in den Niederlanden evakuiert werden. Zahlreiche koordinierte Hilfsmaßnahmen und die Fluchthilfe führten dazu, dass am 23. März 1945 nur noch 260 Niederländer im Lager Groin waren. Am folgenden Tag - als britische Truppen bei Rees bereits den Rhein überschritten hatten - räumten die SA-Bewacher das Lager und marschierten mit dem größten Teil der noch verbliebenen Zwangsarbeiter in Richtung Bocholt.

Die Todesopfer

Im „Ausländerlager Groin“ und den benachbarten Außenstellen in Bienen, Praest, Millingen und Empel starben mindestens 247 Niederländer - das war die Zahl, die bereits 1945 festgestellt wurde. Sie umfasst jedoch nicht alle Sterbefälle. Heute bewegen sich die Angaben zu den verstorbenen und getöteten Niederländern im Bereich zwischen 350 und 650 Opfern. Über die Anzahl der Toten unter den anderen Nationalitäten gibt es keine statistischen Angaben. Allein am 2. März 1945 starben 33 Männer, als ein Brand in einem der Trockenschuppen ausbrach. Sechs von diesen Todesopfern waren Niederländer. Es ist anzunehmen, dass im brutalen Lagerbetrieb in Groin neben den Niederländern auch die anderen Gruppen viele Tote zu beklagen hatten. Auch sie starben an Krankheiten und durch die Prügel der Bewacher. Dazu kam, dass im Februar und März 1945, als die Front den Rhein erreicht hatte, der zunehmende Beschuss durch die Alliierten zahlreiche Opfer unter den Zwangsarbeitern forderte. Auch kurz vor der Besetzung des Lagergeländes durch schottische Soldaten am 25. März 1945, waren einige Ukrainer, Russen und Italiener, die sich während der Kämpfe im Lager versteckt gehalten hatten, durch britischen Artilleriebeschuss ums Leben gekommen. Die wenigen Überlebenden wurden von den Schotten mißtrauisch behandelt, durchsucht und dann in Richtung Rees abgeführt. 

Nach dem Krieg

Das Schicksal der Zwangsarbeiter im Lager Groin blieb in den Niederlanden lange ein wenig beachtetes Kapitel - ein Buch des Apeldoorner Lokalhistorikers Arend Disberg von 2005 trägt den Titel „De verzwegen deportatie“ (Die verschwiegene Deportation). Die 1944 verschleppten Niederländer wurden nicht offiziell als Kriegsopfer anerkannt, sie erhielten später keine materielle oder finanzielle Leistung vom niederländischen Staat. Die Haupttäter - die Lagerleiter Heinze und Röhrig sowie der Lagerarzt Dr. Brunner - wurden in den Niederlanden vor Gericht gestellt und 1950 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, doch schon Mitte der 50er Jahre nach Deutschland abgeschoben. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Hälfte ihrer Strafe abgesessen.